Seit ihrer Jugend schon kämpft Patrycja Onsowicz mit ihrem Gewicht – und hat inzwischen wohl jede Diät schon einmal ausprobiert, leider ohne dauerhaften Erfolg. „Anfangs merkt man nicht, wie sich die Kilos einschleichen“, sagt die 42-Jährige, die als medizinische Dokumentationsassistentin arbeitet. „Im Laufe der Jahre wurden es irgendwie immer mehr.“
Ihren persönlichen Tiefpunkt erlebte die junge Frau, als 2021 ihre Mutter mit gerade mal 60 Jahren an Corona starb. Auch sie sei „nicht die Schlankste“ gewesen. Die Geschichte habe sie wachgerüttelt, sagt die Zittauerin. „Mir wurde bewusst: Ich habe eine Tochter, eine Familie, ich will leben!“ Sie machte sich an die Arbeit, stellte ihre Ernährung um, kocht seitdem für sich und ihren Mann getrennt – und versucht, ihren Lebensstil zu ändern. „Dass das alles nicht einfach ist, wusste ich. Aber nicht, dass es so schwer ist.“
Patrycja ist eine von rund 16 Millionen erwachsenen Deutschen, die unter Adipositas leiden. Vor vier Jahren hat der Deutsche Bundestag Adipositas als eigenständige chronische Krankheit anerkannt. Gemeint ist damit nicht das klassische Übergewicht, sondern laut Definition eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts. In Deutschland sind jeder vierte Mann und ebenso viele Frauen betroffen. Sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen gelten als adipös. Bei kaum einer anderen Erkrankung müssen Patienten mit so vielen Vorurteilen kämpfen – und bleiben mit ihren Ängsten allein.
„Viele Menschen verurteilen uns Übergewichtige. Sie denken, dass wir faul sind, nichts können und sowieso den ganzen Tag nur futtern“, sagt Patrycja Onsowicz. Und es ist zu spüren, wie sehr sie das ärgert. Denn die gebürtige Polin ist das beste Beispiel, dass es eben genau so nicht ist. Patrycja lacht viel, ist aufgeweckt, hat immer einen Spruch auf den Lippen.
Die Kraft findet sie auch in der Selbsthilfegruppe „Adipositas Kügelchen“ aus Kamenz. Seit über zwei Jahren gehört sie dazu, hat hier eine zweite Familie gefunden. Zu den Treffen reist sie regelmäßig aus Zittau an. „Hier kann ich sein, wie ich bin. Es gibt keinen Druck, keine Zwänge, man muss sich nicht rechtfertigen“, sagt Patrycja.
„Ich habe tolle Menschen kennengelernt, neue Freunde gefunden. Das motiviert mich auch.“ Darauf aufmerksam gemacht hatte sie Elke aus dem Örtchen Burkau, auch ein „Kügelchen“. Die beiden hatten sich bei einer Reha kennengelernt.
Ins Leben gerufen wurde die Selbsthilfegruppe von Sandra Schlenkrich. Vor etwa fünf Jahren kam sie nach einem Aufenthalt im Adipositas-Zentrum der Helios Weißeritztal-Kliniken auf die Idee. In Spitzenzeiten wog die Kamenzerin 129 Kilo. „Die Ärzte nahmen mich zum ersten Mal ernst, wir suchten gemeinsam nach Lösungen und arbeiteten auch in Gruppen“, erzählt Sandra Schlenkrich, die inzwischen einen kleinen Sohn bekommen hat.
Ihre guten Erfahrungen wollte sie danach unbedingt mit anderen teilen – und gründete in Eigenregie die Selbsthilfegruppe. Die Mitglieder sind ihr dankbar. „Es ist jedes Mal wie nach Hause kommen. Wir sprechen uns Mut zu, tauschen uns aus, lachen“, sagt Elke.
Mindestens einmal im Monat kommen etwa 20 der insgesamt 35 Mitglieder zusammen. Sie sind zwischen 20 und 68 Jahre alt. Bei den Treffen geht es herzlich und unverkrampft zu. So wie an diesem Montagabend in den Räumen der Caritas in Kamenz. „Lass uns über Adipositas reden“ steht auf einem Becher, in dem Stifte stecken. Auf dem großen Tisch in der Mitte verteilt liegen Karten mit Aufdrucken wie „Gewichtsdiskriminierung. Nein danke“ oder „An 1. Stelle bin ich Mensch! Adipositas ist eine Krankheit!“
Sandra Schlenkrich hat kleine Gläschen vorbereitet. Sie reicht sie herum. „Wisst ihr, was das ist?“ Die meisten liegen richtig und erkennen Buchweizen und Haferkerne, Hirse, Quinoa, Kürbiskerne oder Vollkornreis. Einige berichten, was sie mögen oder wie sie dieses oder jenes Korn schon mal verwendet haben. Vollkornprodukte sind für eine ausgewogene Ernährung unverzichtbar, das weiß hier jeder. Lydia, die die „Kügelchen“ mit leitet, hat eine Schüssel Couscous-Salat vorbereitet – mit frischer Tomate, Paprika und Gurke. Sie verteilt Teller und Gabeln. Dann wird der Salat verkostet – und für gut befunden.
Auch wenn bei Fettleibigkeit die Ernährungsgewohnheiten und das Abnehmen im Mittelpunkt stehen – bei den Treffen geht es um mehr. „Ich war bei einem neuen Orthopäden. Er war freundlich und offen und hat mich nicht von oben herab behandelt wie andere oft“, erzählt Elke. Einige in der Gruppe stimmen ihr zu. Sie kennen das Gefühl zu gut, allein wegen seines Gewichts vorverurteilt zu werden. Es eint sie. „Ärzte sagen oft, dass man abnehmen muss. Aber wie, das sagen sie einem nicht. Dabei wollen wir alle gesünder werden“, sagt Patrycja.
Immer wieder ploppt das Thema bariatrische Operationen auf – das sind Eingriffe, um den Magen zu verkleinern. Für viele Adipositas-Patienten ist es die letzte Chance, langfristig Gewicht zu verlieren. Möglichkeiten gibt es verschiedene: Magenbypass, Schlauchmagen, Magenband oder ein Magenballon. „Ganz ohne ist das nicht. Wer operiert wird, braucht psychische Begleitung und muss ein Leben lang Nährstoffe zuführen“, sagt Sandra Schlenkrich. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie hat sich vor drei Jahren für den Eingriff entschieden. „Mir ist bewusst, dass viele Außenstehende denken: Die macht sich das ja einfach“, sagt die 40-Jährige. „Doch so einfach ist es eben nicht. Denn der Kopf wird ja nicht mit operiert.“
Für das besondere Engagement der Mitglieder wurde die Gruppe Ende Oktober mit dem Sächsischen Selbsthilfepreis in der Kategorie „Herausragende Gruppe“ ausgezeichnet. Damit gewürdigt wird „die sehr aktive Teilnahme“, heißt es in der Begründung des Stifters, dem Verband der Ersatzkassen.
Was die „Kügelchen“ so herausragend macht, wird auch beim Blick auf die gruppeneigene Website schnell klar. Fotos zeigen eine bunte, lustige Truppe bei einer gemeinsamen Nordic-Walking-Tour, einer Alpaka-Wanderung, bei Sporteinheiten am Hutberg, einem Filmabend und Trommel-Workshop, beim Kochen ebenso wie bei verschiedenen Aktionen wie etwa dem Tag der Gesundheit in Kamenz. „Wir nutzen solche Gelegenheiten, um in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für die Krankheit Adipositas zu schärfen und auf unsere Probleme und Nöte aufmerksam zu machen“, sagt Sandra Schlenkrich.
Auch was sie mit ihrem Preisgeld von 3.000 Euro anstellen wollen, wissen die „Kügelchen“ schon genau. Im kommenden Jahr soll es für ein Aktivwochenende ins Querxenland Seifhennersdorf gehen. Zwei Tage raus aus dem Alltag. Mit gemeinsamen Sporteinheiten, Yoga-Stunden, progressiver Muskelentspannung und – das ist allen besonders wichtig – gemütlichem Beisammensitzen. Um sich auszutauschen, Freuden zu teilen ebenso wie Sorgen. Und ganz ohne das Gefühl haben zu müssen, dass hinter vorgehaltener Hand über einen getuschelt wird.
Kornelia Noack