Dresden – Manchmal kommt sie mit den Tagen und Jahren ein bisschen durcheinander. Es ist viel passiert in letzter Zeit. Den 8. März wird Rosemarie John aber so schnell nicht vergessen. Es war der Tag, an dem das Seniorenheim „Am Gorbitzer Hang“ in Dresden offiziell ihr neues Zuhause wurde.
Ihr Zimmer Nummer 7 im dritten Stock hatte die 81-Jährige schon einige Wochen zuvor bezogen, zunächst jedoch nur für die Kurzzeitpflege. Da schien für sie noch klar zu sein, dass sie nur ein wenig aufgepäppelt werden muss, bis sie wieder in ihr vertrautes Umfeld zurückkehren würde. Ihrem Geburtshaus in Leppersdorf, ein Ortsteil von Wachau im Landkreis Bautzen, ist sie ihr ganzes Leben treu geblieben.
Als Kind hat Rosemarie John hier bei der schweren Hofarbeit geholfen, als junge Frau ihre Kinder großgezogen. „Wir hatten immer alles, außer keine Arbeit“, sagt sie. Bis zuletzt hatte sie hier Aufgaben, die sie ganz selbstverständlich erfüllte, solange es ihr Körper zuließ. „Ich habe drei Stunden hintereinander im Sitzen gebügelt. Das hat mir nichts ausgemacht. Auch in den Pilzen war ich und habe sie geputzt und geschnitten.“ Bis 1995 gab sie außerdem Stenografie-Unterricht in Dresden. Danach kümmerte sie sich viel um ihre Enkelin.
Innerhalb kurzer Zeit wurde das vermeintlich Selbstverständliche zuletzt schwieriger. Ihre Hüfte streikte. Dazu kamen eine lädierte Leber und der Zucker. Im Frühjahr 2019 stellte ihre Enkelin fest: „Oma, dein kleiner Finger zittert ja und dein Mund ist ein bisschen schief.“ Ein Schlaganfall.
Die Reisetasche fürs Krankenhaus stand schon seit zehn Jahren gepackt bereit. Später, zurück zu Hause, stürzte Rosemarie John in ihrer Wohnung und brach sich die Hand. Einige Kuren, Krankenhausaufenthalte und Reha-Wochen später musste eine Entscheidung getroffen werden.
„Im Frühjahr ging es mir sehr schlecht“, erinnert sie sich. So schlecht, dass ihre Tochter Iris, die selbst Krankenschwester ist, Kontakt zum Pflegepersonal in Gorbitz aufnahm und sich nach den Chancen für eine dauerhafte Unterbringung erkundigte. Als sich kurzfristig die Chance dazu bot, blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken.
Was aber bedeutete diese Vorstellung für Rosemarie John? Das Elternhaus verlassen. Nach acht Jahrzehnten. Noch einmal neu anfangen. Freiheiten aufgeben.
„Habe keine Kraft mehr“
Emotionen spielten für die 81-Jährige in dieser Frage allerdings kaum eine Rolle. „Ich sehe die Notwendigkeit, dass das Seniorenheim jetzt der richtige Ort für mich ist“, sagt sie. „Zu Hause wäre ich nur eine Last. Ich habe einfach keine Kraft mehr, mich dort einzubringen. Ich bin hier besser aufgehoben.“
Seit ihr Manfred vor 15 Jahren gestorben war, hatte sie allein in der Leppersdorfer Wohnung gelebt, was nun zunehmend problematisch wurde. Die Insulin-Spritzen konnte sie nicht mehr selbst aufziehen und bekam nicht einmal die Folie vom gelieferten Essen herunter. Das wurmte sie.
Die Wohnung selbst ist zwar bereits vor längerer Zeit altersgerecht umgebaut worden, doch die Schwelle von der Küche ins Bad hat sich einfach nicht mit dem Rollator vertragen.
Letztlich machte es Rosemarie John ihren Kindern nicht schwer: Ja, ich ziehe ins Seniorenheim, entschied sie. Sie wollte die Entscheidung mit wachem Geist und vollem Verantwortungsbewusstsein treffen. Abgesehen davon, seien ihr die vielen Vorteile des Umzugs bewusst. „Ein Zimmer mit Blick auf die Frauenkirche – wer hat das schon?“, fragt sie. „Dazu die kurzen Wege, der wunderschöne Park und die vielen Hilfestellungen.“ Tatsächlich ist das ASB-Seniorenheim mit seinen 243 Einzelzimmern auf fünf Etagen eine kleine Stadt für sich, inklusive Einkaufsgelegenheit, Friseur und Minizoo.
Das Freizeitprogramm reicht von Sport, Kultur und Gedächtnistraining bis zur Sturzprophylaxe. Gemeinsames Malen und Spielen wird ebenso angeboten, wobei Rosemarie John nicht gerade die große Spielerin ist. Dafür liest sie inzwischen regelmäßig die Heimzeitung und hört den extra für die Bewohner produzierten Heimfunk.
Enkel statt Ölgemälde
In den ersten Tagen und Wochen nach ihrem Einzug ins Heim wäre das undenkbar gewesen. Damals sei sie zu schwach gewesen, um ihre neue Umgebung erkunden zu können. Auch am Fernsehprogramm hatte sie zunächst kein Interesse. „Ich habe drei Wochen gebraucht, um mich so richtig einzuleben“, sagt sie. Das kam ihr lang vor.
Inzwischen geht es Rosemarie John deutlich besser. An diesem Vormittag sitzt sie an ihrem Tisch und zählt die Weintrauben in ihrer Schüssel nach. Neun Stück. Das Pflegepersonal weiß natürlich, dass sie es nicht übertreiben darf. Über ihr an der Wand hängen Fotos ihrer Enkel und Urenkel. Stattdessen ihr viel zu großes Ölgemälde von daheim dort zu platzieren, wurde ihr erfolgreich ausgeredet.
Neben der Schüssel auf dem Tisch steht ein goldumrandeter Teller, den sie einst als beste Stenografin des Bezirks gewann. Es ist fast die einzige Erinnerung an ihr altes Haus, abgesehen von einige Tassen und Gläsern. Keines ihrer alten Möbelstücke ist mit ihr umgezogen. Für ausladende Schränke und Sessel bietet das Zimmer keinen Platz.
Dasselbe gilt für kofferweise alte Klamotten, von denen sie sich nie trennen konnte und die bis vor kurzem noch ein trauriges Dasein in ihrer Bodenkammer fristeten. „Jetzt taugen die wohl höchstens noch für Fasching“, sagt Rosemarie John. Die diversen Chroniken, die sie in stundenlanger Arbeit auf der Schreibmaschine abtippte, müssten dagegen unbedingt in Ehren gehalten werden.
Henry Berndt
SZ-Lebensbegleiter Tipp:
Ein Leben im Seniorenheim – Rosemarie John ist jetzt ein Teil dieses Mikrokosmos. In den kommenden Wochen wollen wir sie begleiten, ihre Ängste, Hoffnungen und Pläne kennenlernen, aber auch ihre Geschichte, die sie nach acht Jahrzehnten hierhergeführt hat, in das ASB-Seniorenheim „Am Gorbitzer Hang“.
Seien Sie neugierig auf die nächsten Geschichten, die wir fortlaufend an jedem Donnerstag veröffentlichen werden.
Teil 1: „Rosemaries erster und letzter Umzug“
Teil 2: Leben im Pflegeheim: „Ich wollte immer in die Stadt“
Freuen Sie sich auf die nächsten Folgen:
Teil 4: „Spagat wäre nicht zu stemmen“
Teil 5: „Der letzte Umzug ist ein großer Schritt“
Teil 6: „Genieße es, mal rauszukommen“
Teil 7: „Macht Euch um mich keine Sorgen“