Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache verzeichnet zwar 600.000 Einträge in verschiedenen Wörterbüchern – aber beim Grünschnabel besteht Nachholbedarf. Denn der Grünschnabel ist dort ein „unerfahrener junger Mensch, der sich als Besserwisser aufspielt“ – was ja auch stimmt, aber nicht die ganze Wahrheit ist. Denn seit schon neun Jahren ist der Grünschnabel zumindest auch ein spritziger junger Wein, den die Winzer Meißen pünktlich zum 11.11. auf den Markt bringen und binnen kürzester Zeit in großen Mengen an die Kundschaft bringen.
Schnell gemachte junge Weine sind allerdings keine sächsische Erfindung, weil Winzer auch in anderen Regionen erkannt haben: nach nur sechs bis acht Wochen im Fass ist das zwar kein Wein mit Tiefe und Entwicklungspotential – aber die Leute sind wie wild auf den neuen Wein und wollen nicht lange warten. Der österreichische Heurige lässt sich bis 1784 zurück verfolgen – es ist ein Wein der letzten Ernte und zeichnet sich durch seine leichte, süffige und bekömmliche Harmonie aus. Nicht ganz so alt, aber wirtschaftlich ein Riesending, ist der Beaujolais Primeur, den die Winzer der Region seit 1951 unters Volk bringen – jeweils mit zunehmend großem Bohei am dritten Donnerstag im November. Da fließt dann nach wenig Arbeit im Keller zum Jahresende viel Geld in die Kassen, wer mag da schon nein sagen?
Seit neun Jahren spielt die Winzergenossenschaft Meißen dieses Spiel nun auch mit und bringt (Sachsen sind schneller!) immer am Martinstag den Grünschnabel heraus, als unkomplizierten Jungwein, der auch möglichst schnell getrunken werden sollte – Reifepotential ist da nicht viel in der Flasche. Aber was denn dann? „Das ist ein Geheimnis und liegt in den Tiefen des Kellers!“, sagte die Kellermeisterin Natalie Weich bei der Vorstellung des Weins.
Janine Merkel, eine der beiden amtierenden Weinprinzessinen in Sachsen, beschrieb den Grünschnabel bei der Vorstellung so: „Er hat ein sehr gutes, fruchtiges Bukett. Frisch, fruchtig und sehr exotisch. Ananas, Pfirsich und ein bisschen schwarze Johannisbeere“ roch sie. Dieses Jahr ist der Wein nicht so süß wie im vergangenen – da hatte der Grünschnabel satte 60 Gramm Restzucker bei 6 g Säure. In diesem Jahr sind es aber immer noch knapp unter 26 g Restzucker bei ähnlichem Säuereanteil, was den Wein nicht gerade sächsisch-trocken macht, aber das soll er ja auch nicht sein: manche mögen’s süß! Im vergangenen Jahr wurden rund 10.000 Flaschen verkauft, und trotz der nach den April-Frösten mengenmäßig bescheidenen 24er Ernte (ungefähr nur ein Zehntel des normalen Ertrags) sollen es in diesem Jahr genau so viele werden.
Manch einer ist ja vielleicht auch gar nicht auf den Wein scharf, sondern auf die Flasche: Der Grünschnabel hat nämlich sein eigenes Etikett des Künstlers und Karikaturisten Lutz Richter, dessen Motiv jährlich wechselt. Jedes Jahr inszeniert er den frühen Vogel in unverwechselbarem Stil und greift immer ein Thema auf. Beinahe wäre es in diesem Jahr der April-Frost geworden – aber kurz vor knapp gab’s dann doch eine bessere Idee: die Meißner Winzer haben auf der AWC Vienna – der weltweit größten offiziell anerkannten Weinbewertung – nämlich ziemlich abgeräumt. Mit fünf Gold- und vier Silbermedaillen ergab sich ein beachtliches Gesamturteil: 4 Sterne (von fünf möglichen). Bei 10.824 Weinen von 1.412 Produzenten aus 41 Nationen ein Ergebnis, auf dass man stolz ist – zumal andere große Betriebe aus Sachsen nicht so gut abgeschnitten haben. Also zeigt das Etikett in diesem Jahr den Grünschnabel mit fünf güldenen Medaillen an der Brust, wie er sehr locker mit den Sternen jongliert!
Kaufen kann man den Wein ab 11. November – zum Beispiel in der Vinothek der Winzergenossenschaft für 10,95 Euro, im Onlineshop unter winzer-meissen.de.
Unser Autor Ulrich van Stipriaan ist bekennender Genussmensch. Seine profunde Weinkenntnis ist im Podcast „Auf ein Glas“ zu hören. Ebenfalls unter stipvisiten.de finden sich Reiseberichte, Restaurantkritiken, Beiträge über Wein und Winzer.