Im zwölften Teil unseres exklusiven Abdruckes der Autobiografie „Ernst Hirsch – Das Auge von Dresden“ erinnert sich der Dresdner Kameramann Ernst Hirsch an seine Kindheit, die seine Liebe zu den Tiroler Bergen begründete.
Die erste Reise mit meinen Eltern nach Tirol
Eine Postkarte mit der Ansicht der Ortschaft Ranalt im Stubaital in Tirol, im August 1932 mit Grüßen nach Dresden geschickt, hat sich erhalten und ist für mich ein Beleg, wie früh meine Eltern die Bergwelt Tirols als Reiseziel wählten. Sie waren so angetan von der Landschaft und den Menschen dort, dass sie in den folgenden Jahren immer wieder hinfuhren. Als ich zwei Jahre alt war, nahmen sie mich das erste Mal mit nach Tirol. Der Ort, zu dem wir reisten, heißt Neder, ein kleines Dörfchen in der Nähe von Innsbruck, im Stubaital gelegen, zwischen Fulpmes und Neustift. In der Zeit bis 1944 sind wir jeden Sommer, manchmal sogar im Winter, für mehrere Wochen dorthin gefahren. Bereits die Zugfahrt von Dresden war ein Erlebnis. Von unserer Wohnung in der Johann-Georgen-Allee liefen wir durch die Zinzendorfstraße zum Hauptbahnhof. Die Eltern nahmen kein Taxi. Rollkoffer gab es zu der Zeit nicht, die Koffer wurden getragen. In meinem Rucksack reiste mein geliebter Teddybär mit. Auf dem Hauptbahnhof, am Bahnsteig 14 angekommen, bewunderte ich die große Dampflokomotive, die zischte und fauchte wie ein Ungeheuer. Männer mit Ölkannen schmierten die Pleuelstangen oder klopften mit langstieligen Hämmern an die Bremsen. Pünktlich 22.30 Uhr fuhr der Zug ab. In einem reservierten Abteil befestigten meine Eltern eine mitgebrachte Hängematte, in der ich bis München schlief. Während der Nacht wachte ich nur einmal vom Quietschen der Bremsen auf. Der Bahnhofsvorsteher rief mit lauterer Stimme: „Marktredwitz, Marktredwitz.“ Erst als ich erwachsen war, erfuhr ich von meiner Täuschung. Der Mann hatte Markt Redwitz ausgerufen. In Regensburg überquerte der Zug die Donau, in der Ferne sah man die „Walhalla“, seit 1842 eines der bedeutendsten deutschen Nationaldenkmäler. Doch das alles begriff ich erst bei späteren Fahrten, als ich schon älter war. Am frühen Morgen erreichte der Zug den Münchner Hauptbahnhof.
Gleich daneben lag der Starnberger Bahnhof. Hier begann die Karwendelbahn, die über Garmisch-Partenkirchen, Mittenwald und Seefeld hinab ins Inntal führt. Eine faszinierende Strecke, Tunnel folgt auf Tunnel, dazwischen kühne Brücken. Die sogenannte Martinswand, in der sich der Sage nach Kaiser Maximilian 1484 verstiegen haben soll, sieht man nicht, denn durch sie führt ein Tunnel. Von Innsbruck aus fährt seit 1904 bis heute die Stubaitalbahn. Sie begann damals noch an der Abtei Wilthen, etwa fünfundzwanzig Minuten zu Fuß vom Bahnhof Innsbruck entfernt. Die Bahn schlängelt sich in vielen Kurven durch die herrliche Gebirgslandschaft nach oben, überquert kühne Viadukte und nach der Fahrt durch blumenreiche Bergwiesen erreicht sie den Hauptort Fulpmes. Unser eigentliches Ziel, das Dorf Neder, ist von dort noch vier Kilometer entfernt. Zuvor kommt aber noch der Ort Medraz, wo wir auf einer überdachten Holzbrücke den Bergbach Ruetz überquerten. Nach einem Fußmarsch von einer Stunde auf damals schmaler, staubiger Straße kam unser Ziel Neder in Sicht: der Steger-Hof, der der Familie Urban Hofer gehörte.
Meine Eltern hätten sich eine andere, eine komfortablere Unterkunft leisten können. Doch ihnen gefielen die einfache bäuerliche Lebensweise, diese herzlichen Menschen und die eindrucksvolle Landschaft. Auf dem Bauernhof gab es keinerlei Komfort, weder Bad noch ein ordentliches Klo. Als kleiner Kerl hat mich das nicht gestört, ich bemerkte es in diesem Alter überhaupt nicht.
Die Aufenthalte in Neder prägten mich auf besondere Weise. Die einheimischen Kinder wurden bald meine Spielgefährten. Hofers hatte zehn fünf Kinder: Franz, Ludwig, Olga, Anna und Siegfried. Anna, Nanni genannt, war im gleichen Alter wie ich. Schon auf dem ersten Foto von 1938 sind wir zusammen zu sehen. Sie war meine bevorzugte Spielgefährtin, den ganzen Tag tollten wir herum. Man erzählt in der Familie, dass ich sogar den Dialekt der Tiroler übernahm. Am Bächlein vor dem Bauernhof baute ich kleine Wassermühlen. In der Tischlerei Gerauer fanden sich nebenan frisch gesägte Brettreste, aus denen ich Häuschen baute. Von den nahen Wiesen hörte man den ganzen Tag über die Kuhglocken.
Mathilde, die Bäuerin, hatte besondere Eigenarten. Sie war sehr kurzsichtig, las aber trotzdem nach ihrer schweren Arbeit am Abend. War das Feuer im großen Küchenherd ausgegangen, die Platten aber noch warm, legte sich Mathilde auf eine dicke Lage Zeitungspapier nieder und las. Mit einer Stütze, die wie eine Fußbank aussah, unter ihrem Kopf. Dabei hielt sie das Buch ganz nah an ihre Augen. Oft sangen alle zusammen alte Volkslieder, auch die Kinder, die jeden Vers kannten.
Das tägliche Leben spielte sich hauptsächlich in der Küche ab. Ein ganz besonderes Erlebnis für mich als Kind aus der Stadt: Frische Eier wurden direkt in der Küche gelegt! Die Hühner kamen durch ein Loch in der Hauswand, scharrten und gackerten unter der langen Sitzbank, die vorn mit Latten verschlossen war und legten ihre Eier. Auf dieser Bank war auch die Zentrifuge angeschraubt, mit der die frische Milch entrahmt wurde. Ich durfte manchmal die große Kurbel drehen: Unter surrendem Geräusch trennte der „Separator“ die Sahne ab, die durch ein dünnes Rohr abfloss, aus einem dickeren Rohr daneben floss die Magermilch. Das hölzerne Butterfass musste lange gedreht werden, bis die Butter fertig war. Die frische Buttermilch schmeckte mir besonders gut. Die Bäuerin drückte die Butter in hölzerne, edelweißverzierte Modeln, Holzformen mit Mustern, und ließ die Butterstücke zur Kühlung im kalten Wasser schwimmen.
In einer Ecke der Küche gab es eine schräge Klappe, die die Kellertreppe verschloss. Im gesamten Keller stand das klare Bergwasser einen halben Meter hoch und diente zur Hauswasserversorgung und als natürlicher Kühlschrank. Meine Großmutter, die oft mit uns gereist war, hatte Anfang der 1940er Jahre einmal Orangenmarmelade gekocht (Italien war ja nicht weit, deshalb gab es auch im Krieg Orangen) und zum Abkühlen das Gefäß mit der Marmelade auf dem Wasser im Keller schwimmen lassen. Plötzlich war das Gefäß jedoch verschwunden, wohin nur? Weit draußen auf der Wiese, durch die der Bach floss, fand man die Schüssel mit der Marmelade schließlich unbeschädigt wieder. Durch einen Abfluss aus dem Keller war die Schale abgetrieben.
Mit Appetit nahm ich an die Mahlzeiten der Familie teil, auch wenn die Kost sehr einfach war. Es gab Milchsuppe, danach Topfen-Striezel, oft selbstgemachte Nudeln, samstags Krapfen und sonntags Fleischknödel. Mathilde stellte eine große Schüssel in die Mitte des Tisches. In einem Schubfach lagen Holzlöffel. Jeder greift sich seinen Löffel, alle aßen gemeinsam aus der Schüssel. Vorher wurde immer gebetet, aber nicht etwa mit Andacht, sondern recht oberflächlich. Die Bäuerin nuschelte und brabbelte das Gebet: „Gebenedeit seist Du, Jungfrau Maria“… Sie unterbrach mitten im Gebet: „Franz, schür‘ das Feuer nach!“ Jeden Morgen ging sie um fünf, halb sechs nach Neustift, in die zwei Kilometer entfernte Kirche zur Frühmesse. Erst danach konnte das Tagewerk beginnen.
Bauer Urban spannte eine Kuh vor den Wagen, um vom „Bichel“, einem kleinen Hügel vor dem Haus, Grünfutter zu holen. Hoch oben auf der Bergwiese lag das Heu bis zum Winter im „Stadel“, ehe es mit einem Hörnerschlitten in die Scheune geholt wurde. Urban Hofer war 1893 geboren worden und im Ersten Weltkrieg als junger Soldat in russische Gefangenschaft gekommen. Dies war das einzige Mal, dass er aus dem Tal herauskam. Selbst bei der Arbeit behielt Urban die Pfeife ständig im Mund. Eine Bank vor dem Haus hatte er so aufgestellt, dass er freien Blick auf „seine“ Berge hatte.
Neben dem Bauernhaus, direkt an der Straße, stand ein Backofen. Einen Bäcker gab es im Dorf nicht, und so hatten die Gehöfte alle einen eigenen Ofen. Es wurde nur aller drei bis vier Wochen gebacken, so lange hielt sich das Brot. Ich beobachtete, wie die Bäuerin den Teig in einer Backmulde knetete und in runden Laiben formte. Schon Stunden vorher musste der Sauerteig angesetzt sein, Gewürze und Kümmel kamen hinzu. War der Ofen lange genug vorgeheizt und genügend Hitze darin gespeichert, die Holzasche herausgekehrt, schob sie die Laibe mit einem langen Schieber hinein, nacheinder 18 bis 20 Stück. Das frische Brot schmeckte herrlich! Der Backofen musste vor vielen Jahren der Straßenverbreiterung weichen und das Brot gibt es jetzt im Supermarkt.
1943 hatte meine Mutter mit der Post Gänseier von Dresden nach Neder geschickt. Bis dahin gab es im Dorf keine Gänse. 1944, bei unserem nächsten Besuch, schnatterte dann schon eine stattliche Schar. Meine Mutter blieb oft länger mit mir in Tirol, während mein Vater, der wieder zum Dienst musste, eher zurückfuhr. Sogar in die Dorfschule bin ich gegangen. Ein Pater erteilte den Religionsunterricht. Er trug eine lange schwarze Kutte, die von einer langen Kordel zusammengehalten wurde, und Sandalen an den Füßen.
Im Urlaub 1944 prägte sich mir eine Wanderung mit meiner Mutter besonders ein. Das Ziel war die Sulzenau-Alm, etwa 15 Kilometer von Neder entfernt. Schon die Straße im Tal über Neustift und Ranalt schien mir endlos zu sein. Etwas Abwechslung während des langen Fußmarsches brachte uns Begegnungen mit Gebirgsjägern, die mit ihren schwerbeladenen Mulis ein Stück des Weges mit uns zogen. Ab Ranalt führte nur noch ein Wanderweg entlang des reißenden Baches. An der Grawa-Alm sah ich zum ersten Mal einen großen Wasserfall. Der weitere Weg führte dann steil bergauf bis auf 1.900 Meter über Meereshöhe zur Almhütte. Dort übernachteten wir und traten erst am nächsten Tag den Rückweg an.
1992 wiederholten meine Frau und ich in Erinnerung an meine Tour 48 Jahre zuvor die Wanderung zur Sulzenau-Alm. So weit war ich damals mit acht Jahren gelaufen? – Ich konnte es kaum fassen. Diesmal fuhren wir auf der inzwischen gut ausgebauten Straße mit dem Auto bis zum Wasserfall und bewältigten nur den steilen Anstieg zur Alm zu Fuß. Heute fahren unzählige Pkw und Busse noch einige Kilometer weiter direkt bis zur Mutterberg-Alm, um das Ganzjahresskigebiet Stubaier Gletscher zu erreichen. Mehrere Bergbahnen befördern die Skifahrer zur Dresdner Hütte, die bereits 1875 vom Alpenverein gegründet wurde.
1944 besuchten wir für lange Zeit letztmalig das Stubaital. Die Verbindung blieb jedoch bestehen, viele Briefe erreichten meine Eltern. Anfang 1945 schrieb uns eine junge Frau aus dem Ort Medraz in der Nähe von Fulpmes im Stubaital. Sie bat meine Mutter, ihren verwundeten Mann, den Soldaten Hans Knaus, im Dresdner Diakonissenhaus zu besuchen. Hans, von einem Kopfschuss getroffen, war von den Ärzten schon aufgegeben worden. Meine Mutter besuchte und pflegte ihn täglich, brachte ihm homöopathische Mittel. Einmal ging ich mit und sah ihn, den Kopf verbunden, bleich und apathisch im Bett liegen. Durch die intensive Pflege und Zuwendung meiner Mutter verbesserte sich tatsächlich sein Zustand und er konnte entlassen werden. Am 13. Februar 1945 holte ihn seine Frau in Dresden ab. Sie fuhren mit dem letzten Zug, nur eine Stunde vor dem Angriff auf die Stadt, nach München. Im Diakonissenhaus wäre er, wie viele seiner verwundeten Kameraden, beim Angriff ums Leben gekommen. Als meine Mutter mit mir 1955 wieder im Stubaital war, besuchten wir Hans Knaus. Wir trafen ihn im Garten und als er die Wollmütze abnahm, war seine schwere Kopfverletzung noch sichtbar. Er verdankte meiner Mutter sein Leben – seine Töchter halten bis heute Verbindung mit mir.
Nach dem Kriegsende 1945 waren Reisen dorthin vorerst nicht mehr möglich. Erstmalig sind wir 1951 wieder in Tirol gewesen. Mit einem Interzonenpass konnten wir nach Westdeutschland fahren und weiter nach Österreich ins Stubaital. Ein weiteres Mal fuhr ich im Oktober 1954 zusammen mit meiner Mutter dorthin, die Normalfilmkamera EYMO im Gepäck, um einen Filmbericht über die Bergbauern aufzu- nehmen. Viel hatte sich schon verändert, ihre Arbeit war leichter geworden, an den Hängen zog zum Beispiel eine Seilwinde den Pflug am Berg. Viele Felder in den steilen Lagen waren inzwischen in Wiesen verwandelt. Ich musste mich auf Außenaufnahmen beschränken, weil ich keine Beleuchtung mitgenommen hatte. Zusätzliche Aufnahmen von der Bergwelt ergänzten meinen Film.
Auf der Rückfahrt von unserer Italienreise 1956 machte ich mit meinem Freund Herrmann Zschoche am 26. August einen Abstecher ins geliebte Stubaital. Wir filmten die Bauernhöfe, den Ort und eine große Fronleichnamsprozession rund um die Kirche von Neustift. Dieser Farbfilm ist heute ein wertvolles Dokument.
Die Sehnsucht nach den Bergen blieb
Mit dem Mauerbau 1961 war auch diese Grenze unpassierbar geworden – es war 28 Jahre lang Schluss mit den Tirol-Reisen. Nur Briefe hielten Kontakte aufrecht. Endlich, 1989, war ich mit der Familie wieder in Tirol. Ich wurde begrüßt wie der verlorene Sohn.
Wir hatten ein Wohnmobil ausgeliehen und uns nach Neder aufgemacht. Es war eine große Überraschung für die einstigen Spielgefährten aus der Kinderzeit, als wir plötzlich dort auftauchen. Sie hatten längst eigene Familien und Kinder. Der älteste Sohn Franz schenkte uns spontan fünfzig Westmark. Er sagte dazu: „In Erinnerung an Deine Eltern. Sie haben uns immer unterstützt.“ Mit dem fünfzig Mark beschlossen wir, in Garmisch-Partenkirchen auf die Zugspitze zu fahren. Unser Sohn Konrad war auch mit dabei. Wir waren glücklich, den atemberaubenden Blick über das Bergpanorama genießen zu können.
In den folgenden Jahren reiste ich wieder öfter nach Neder, und erkannte immer stärker, welchen Schatz an Eindrücken und Erlebnissen diese Zeit für mich bedeutet hat. Es wird wohl kaum viele Gäste geben, die wie ich seit nunmehr 78 Jahren dem Stubaital die Treue halten.
Die Bäuerin Traudel vom Hieser-Hof, bei welcher ich heute wohne, wenn ich ins Stubaital fahre, rief mich im Frühjahr 2016 an und sagte: „Ernstel, wir freuen uns, dass du kommst. In einer Nacht ist zwar kein Zimmer mehr frei, da schläfst du bei mir in der Küche auf dem Sofa.“ Nette, herzliche Leute. Sie haben noch ein Stück alter Vertraulichkeit. Traudel, die Altbäuerin, kennt noch alle früheren Einwohner und Geschehnisse. Wir können uns aber auch über die jüngere Geschichte des Ortes austauschen. Unterdessen hat sich der Ort völlig verändert: Autoverkehr wie in der Großstadt, neue Häuser, viele Hotels. Seilbahnen bringen die Wintersportler hoch hinauf in die Skigebiete – ganzjährig schneesicher!
Kirchenjubiläum in Neder mit Hirsch-Film
Im April 2012 feierte Neustift ein großes Kirchenjubiläum. In der barocken Neustifter Kirche gibt es große Deckengemälde aus dem Jahr 1772 mit biblischen Geschichten. Die wenigsten Kirchenbesucher kennen den Inhalt der Heiligen Geschichten dieser Deckengemälde. Mit der großen Videokamera auf einem Stativ filmte ich die Gemälde in Nah- und Großaufnahmen und in langsamen Schwenks, löste sie nachvollziehbar auf. Den erklärenden Text sprach Pfarrkurator Michael Brugger im Dialekt der Gegend. Vorher hatte ich Filmaufnahmen des Dorfes gemacht, die alten Aufnahmen von 1956 in den Film integriert und ihn digitalisiert. Anlässlich des Jubiläums führte ich das Ergebnis im Ort vor. Das war eine Sensation! Erstmalig wurde es gestattet, in der Kirche einen Film aufzuführen. Die Resonanz war heftig und herzlich. Viele erkannten im Film von 1956 ihre Vorfahren. Gegenseitig erinnerte man sich an die Personen, welche auf der Leinwand zu sehen waren. Sogar Bischof Dr. Manfred Scheuer gratulierte mir nach der Aufführung des Films und ich erhielt eine Urkunde überreicht.
Das alles hatte sich durch einen Zufall ergeben. Der Bäuerin, bei der ich wohne, erzählte ich von meiner Idee eines Films zum Kirchenjubiläum. Sie stellte mir den Lehrer und Ortschronisten Ernst Hasselwanter vor. Nun hatte ich einen guten Partner an meiner Seite, mit genauen Kenntnissen der Ortsgeschichte. Durch Hasselwanter war es dann ebenfalls möglich, Kontakte für eine Filmvorführung in der Kirche zu knüpfen. Lehrer Ernst Hasselwanter hat vom Film DVDs anfertigen lassen, die verkauft wurden. Alle Einnahmen kamen der Kirche zugute. Heute sind wir gut befreundet, Karin und Ernst Hasselwanter besuchten uns auch in Dresden.
Ein Wunder
Das einzige alte Haus, was im Dorf Neder noch steht, ist dieser Steger-Hof, der Bauernhof meiner Kindheit. 2016 gab es ihn noch, er stand leer, unbewohnt und ziemlich vermüllt, aber noch keine Ruine. Ich ging durch den Stall, von dort ins Wohnhaus. Überall viele Spinnweben. Ich öffnete die Tür, verweilte lange an diesem Ort meiner Kindheit. Noch gab es das Zimmer, über eine Holztreppe zu erreichen, welches meine Eltern gemietet hatten. Es war eigentlich das Schlafzimmer der Bauern gewesen, mit einem eisernen Doppelbett aus den zwanziger Jahren – der Zeit, als die Bauern jung verheiratet waren. Die Lampe an der Decke hing noch genauso wie vor 70 Jahren. Das Wohnzimmer war unverändert, aber unbewohnbar. Der Lehmofen mit der Ofenbank und den hölzernen Stangen ringsum, über die im Winter die nassen Kleidungsstücke zum Trocknen aufgehängt würden, stand noch. Nur das Kruzifix in der Ecke über der umlaufenden Bank fehlte. Die Küche war vollkommen vermüllt. Unter den Fenstern stand die Holzbank, auf der die Zentrifuge angeschraubt gewesen war. Durch die Hauswand war zu ebener Erde ein Durchschlupf für die Hühner gebrochen, nur gab es nun keine Hühner mehr unter der Bank und keine frisch gelegten Eier direkt in die Küche geliefert.
In der Scheune lag noch Heu und Stroh. Auf der Tenne standen die einfachen landwirtschaftlichen Geräte und der Hörnerschlitten, mit dem das Heu einst auf gefährlichen, steilen Wegen im Winter zu Tal gebracht wurde. – Ich hörte förmlich die Geräusche eines Gebläses, mit dessen Hilfe die Spreu vom gedroschenen Getreide getrennt wurde und mit den Blättern aus den geernteten Preiselbeeren ausgeblasen wurden. Die Reste einer kleinen Kutsche erinnerten mich daran, dass damit die Sommergäste des nebenan gelegenen Gasthofes „Zum Zegger“ befördert wurden.
Alle Menschen, die einst das Haus belebten, gibt es nicht mehr – bis auf zwei Töchter der Familie, die mit mir zusammen Kinder waren, und mich. Ich verweilte lange an dem Ort, wo ich als Kind mit meinen Eltern und der Großmutter unbeschwerte Tage verbracht habe. Fernab von Dresden, wo fast alle Schauplätze meiner Kindheit nicht mehr existieren. Ich möchte es schnell als ein Wunder bezeichnen, diese Wiederbegegnung mit Neder noch erlebt zu haben.
Mehr von und über Ernst Hirsch
In der nächsten Woche setzten wir die Autobiografie fort, dann lesen Sie, wie Ernst Hirsch mit dem Fahrrad reiste.
Das vorangegangene Kapitel über Hirsch Zeit nach dem Aussteig aus der „Aktuellen Kamera“ können Sie ……. nachlesen. Zum Start der Serie klicken Sie HIER.
In der Mediathek der SLUB sind viele Filme aus der Sammlung von Ernst Hirsch bereits digitalisiert.