Thum – Ihre Lebensgeschichten sind voller Schicksalsschläge, sie handeln von politischer Verfolgung, Sippenhaft, Vertreibung und von Liebe.
Feiertage in Thum. 90 Jahre alt ist Annemarie Krause geworden, einen Tag später beging ihr Mann Karl-Heinz dasselbe Jubiläum. „Ich bin vier Stunden älter“, sagt sie und amüsiert sich köstlich.
Die beiden Krauses leben in Annemaries Elternhaus, es ist eines der ältesten Häuser in Thum. Man kennt sich hier. Zu den Geburtstagen kommen die Nachbarn vorbei. Viel Zeit zum Schwatzen, Quatschen und Tratschen.
Es gab Zeiten, da wurde in Thum über ein junges Mädchen getratscht: Annemarie, die damals noch Weiser hieß, 16 Jahre alt war – und schwanger: „Und das auch noch von einem Russen. Na, da war was los!“ Annemarie Krause hält es kaum auf dem Sofa, als sie das erzählt. Ihre Augen strahlen, sie fährt sich durch ihre kurzen, silberfarbenen Haare. Die Gedanken wandern zurück.
1945. Der Krieg ist zu Ende. Eine Clique aus Jungs und Mädchen – die meisten zwischen 13 und 14 Jahren – stromert durch die Gegend. Immer wieder nähern sie sich der Kommandantur, die die Russen in Thum eingerichtet haben. Die Fremden fallen auf in ihren Uniformen. Und einer ganz besonders: Maxim Milika sieht nicht nur gut aus, sondern spricht auch sehr gut Deutsch. Der Sergeant kommt aus Moldawien, gehört da zur deutschen Minderheit. Er ist beliebt im Ort. Hilfsbereit, fröhlich, freundlich. Die dunkelblonde, attraktive Annemarie hat alsbald ein Auge auf den 20-Jährigen geworfen, ihre Blicke werden erwidert. Die beiden verlieben sich. Annemarie wird schwanger – mit gerade mal 15 Jahren. „Für mich war das gar kein Problem. Ich war verliebt! Auch meine Mutter und meine Verwandten haben zu mir gehalten. Meine Großmutter hat gesagt: ‚Ob schwarz, rot, gelb oder weiß – jeder Mensch hat einen guten Kern.‘“
1947 kommt Töchterchen Verena zur Welt. Maxim und Annemarie wollen eine Familie gründen. „Da dachte ich noch, alle Menschen sind gut.“ Ein fataler Irrtum. Maxims Antrag auf Entlassung wird abgelehnt, für die Rote Armee käme das einer Fahnenflucht gleich. Das Paar beschließt, in den Westen zu fliehen. „Aber wir wurden schon beobachtet. Als ich nach Hause kam, um meine Sachen zu packen, standen Soldaten vor der Tür.“
Maxim ist zu diesem Zeitpunkt bereits untergetaucht. Weil die Soldaten ihn nicht finden, verhaften sie die junge Mutter. Es ist der 5. Oktober 1948. „Die Übersetzerin redete auf mich ein, ich solle ganz schnell möglichst viele Sachen zusammenpacken. Unterwegs, auf dem Weg nach Chemnitz fragte sie, ob ich auch einen Mantel dabei hätte. Hatte ich nicht. Da sind wir sogar noch mal umgekehrt. Später habe ich oft und dankbar an diese Frau gedacht.“
Inhaftiert in Hoheneck
Annemarie wird in das Gefängnis auf dem Chemnitzer Kaßberg gebracht. Drei Monate Einzelhaft und verhöre. Auch ihre Mutter und eine Tante werden in Sippenhaft genommen. Die kleine Verena kommt zu einer anderen Tante. Im Dezember steht Annemarie vor dem sowjetischen Militärgericht. Die 17-Jährige wird zu 25 Jahren Strafarbeitslager verurteilt. „Verstecken eines Deserteurs der Roten Armee“, lautete die Anklage. Mutter und Tante bekommen zehn Jahre Haft, alle drei werden nach Bautzen verlegt.
Im April 1949 keimt Hoffnung. Mutter und Tante kommen frei. Für Annemarie wird das Strafmaß auf zehn Jahre herabgesetzt. Im Viehwaggon wird sie nach Sachsenhausen verlegt. In dem sowjetischen Speziallager, das die Nazis bis Kriegsende als Konzentrationslager genutzt hatten, gibt es Flöhe und Wanzen. Die Strohsäcke sind dünn. „Ich war so glücklich über meine privaten Sachen. Viele andere Gefangene hatten nur das Sommerkleid, in dem sie verhaftet worden waren.“
„Wir hatten in Hoheneck einen Spruch, der für mich bis heute gilt: Das sind die Starken im Leben, die unter Tränen lachen und andere fröhlich machen.“
Annemarie Krause, von 1950 bis 1954 in Hoheneck inhaftiert
1950 wird das Lager Sachsenhausen aufgelöst. Viele Gefangene werden entlassen, die anderen an die deutsche Justiz übergeben. Zu jenen gehört Annemarie. Wieder geht es im Viehwagen einem unbekannten Ziel entgegen. Am Bahnhof angekommen, weiß Annemarie, wo sie ist: in ihrer Heimat, im erzgebirgischen Stollberg. „Als Kind habe ich immer neugierig auf Schloss Hoheneck geschaut, es war ein Soldatenlazarett.“
Nun muss sie selbst hier einrücken. Sie hofft, dass es jetzt unter deutscher Justiz, besser wird, sie vielleicht sogar entlassen wird. Denn ihr einziges Verbrechen war doch, dass sie sich verliebt hatte. Aber hinter der Gefängnismauer holt sie die bittere Realität ein. „Wir wurden von einer Wachtmeisterin empfangen. ‚Ein-Meter-fünfzig-mit-Hut‘ haben wir die später genannt. Die sagte zu uns: ‚Wenn es Gerechtigkeit gäbe, hättet ihr alle verrecken müssen.‘“
Die DDR-Justiz setzt Annemaries Strafmaß wieder auf 25 Jahre hoch. Die Frauen müssen persönliche Sachen abgeben. Sie bekommen Holzschuhe und Fußlappen, eine -hose und eine Jacke sowie je zwei Männerhemden und -unterhosen. Es folgen Jahre der Entbehrung und Erniedrigung. Schwere Arbeit im Kohlebunker, harte Strafen wegen Nichtigkeiten. Einmal im Monat darf die Mutter sie besuchen. Ihre Tochter Verena bekommt sie nicht zu Gesicht.
1950er Jahre: Politisches Tauwetter im Nachkriegsdeutschland. Konrad Adenauer fährt nach Moskau und holt Kriegsgefangene nach Hause. Die Frauen in Hoheneck vergleichen ihr Schicksal mit dem der deutschen Soldaten. Sie fordern, dass ihre Urteile überprüft werden. Es kommt zum Hungerstreik. „Darauf bin ich heute noch stolz. Wie wir alle zusammengehalten haben.“ Es kommt zu ersten Entlassungen.
Annemarie ist eine der Letzten. Am 20. Januar 1954 wird sie in ein Zimmer gerufen, bekommt einige wenige persönliche Dinge und zehn Mark für die Heimfahrt. Ein Wachtmeister begleitet sie bis Chemnitz. „Als er dann einfach auf Wiedersehen sagte, wollte ich am liebsten hinter ihm her. Wo sollte ich denn hin?“ Da fällt ihr das Foto ein, das ihr die Mutter irgendwann einmal zugesteckt hatte. Auf der Rückseite steht die Telefonnummer des Thumer Fotoateliers. Sie lässt ihrer Mutter ausrichten, dass sie auf dem Weg in die Heimat sei. Nachts halb drei hält der Güterwagen in Thum. „Und da standen sie, meine Mutter und die kleine Verena. Sie hatte sich hinter meiner Mutter versteckt, wollte nicht zu mir. Das war verständlich, sie kannte mich ja nicht. Ich war eine fremde Frau.“ Weh getan hat es trotzdem.
Annemarie findet Arbeit in einer Schuhfabrik. Die 22-Jährige will die Mutter unterstützen, der Kleinen was bieten. Und auch selbst endlich leben. Bei einem Besuch auf dem Sommerjahrmarkt in Thum passiert es: „Da habe ich ihn kennengelernt. Meinen Karl-Heinz.“ Sie erzählt ihm schon bald ihre Geschichte. „Sie war da ganz offen“ erinnert sich Karl-Heinz Krause und lächelt seine Frau an. „Das war so in der Zeit. Da hatten viele schlimme Erlebnisse.“
Er stammt aus Schlesien. Anders als viele andere Deutsche muss seine Familie erst drei Jahre nach Kriegsende die Koffer packen; sein Vater wurde im Bergbau gebraucht. In einem Viehwaggon geht es nach Chemnitz und dann weiter bis Hormersdorf. In einer Fabrik am Rande des Ortes kommen sie unter: Karl-Heinz, seine drei Schwestern und die Eltern. Zu diesem Zeitpunkt kann der junge Mann auf dem rechten Auge nur noch Hell und Dunkel unterscheiden. Eine Krampe hatte ihn noch in Polen mitten ins Auge getroffen. Ein Dummer-Jungen-Streich mit lebenslangen Folgen.
Ein neues Leben wird aufgebaut
1955 heiraten Karl-Heinz und Annemarie. Sie ziehen in ihr Elternhaus. Er findet Arbeit bei der Wismut. Annemarie erwartet ein gemeinsames Kind. Die Wehen setzen zu früh ein. Annemarie entbindet Zwillinge, die die Geburt nicht überleben. „Eine schlimme Zeit. Aber wenigstens das Verhältnis zu Verena wurde besser.“ Sie bekommt den Namen Krause. Die kleine Familie richtet sich ein. Annemarie wechselt die Firma, arbeitet jetzt in der Miederwarenfabrik. Karl-Heinz kann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr unter Tage arbeiten, wird erst Radiometrist, bildet sich weiter und führt bis 1986 geologische Erkundungen durch. Auf ein Studium verzichtet er. Die Familie hätte sonst den lange geplanten Hausumbau nicht stemmen können.
2006. Annemarie Krause sitzt mit Mann und Tochter in einem Flugzeug. Der Flug hatte sie viel Überwindung gekostet: „Seit meiner Zeit im Gefängnis bekomme ich Angstzustände in engen Räumen.“ Doch in die moldawische Hauptstadt Chisinau führte nun mal nur ein Flug – und Annemarie Krause wollte unbedingt nach Chisinau. Zu Maxims Familie.
Die Suche nach der Jugendliebe
Den Kontakt haben die Krauses der ZDF Aktion „Letzte Hoffnung“ zu verdanken. Für ein Treffen mit Maxim Milika ist es allerdings schon zu spät – er ist 1990 an den Folgen des Reaktorunglücks in Tschernobyl gestorben. Er hatte Blutkrebs.
Dass sie ihre erste Liebe nie wiedersehen würde, weiß Annemarie zu diesem Zeitpunkt bereits. Tochter Verena hatte in den 90ern über den DRK-Suchdienst eine Spur zu ihrem Vater gefunden. „Als Maxim 1948 erfahren hatte, dass er gesucht wird, ist er geflüchtet. Er kam nicht weit.“ Zwei Tage nach Annemaries Verhaftung wurde er bei Magdeburg gefasst und im Dezember 1948 zu 25 Jahren Arbeitslager in Sibirien verurteilt – in Magadan am Ochotskischen Meer. Im Gulag lernt er seine neue Frau kennen. „Sie war die Tochter eines Großgrundbesitzers aus der Ukraine“, sagt Annemarie. Am 18. Januar 1958 wurde Maxim vorzeitig aus der Haft entlassen. Das Paar heiratete und elf Kinder – neun Jungs und zwei Mädchen. Beim Treffen in Moldawien begegnen die Krauses mehreren Generationen einer Großfamilie.
Was für ein Leben
November 2021. Annemarie und Karl-Heinz Krause schauen auf zweimal 90 Jahre zurück. Zwei Leben, die genug Geschichten für einen ganzen Roman bereithielten. Geschichten von Schmerz und Glück, von Trennungen und Wendungen. Wie die ihrer Tochter Verena. Sie hatte Außenhandelskauffrau gelernt und war auf einer Messe einem Italiener begegnete. Nach der Hochzeit, in den 1970er-Jahren, siedelten die beiden in den Westen über. Wieder war die Tochter unerreichbar weit weg. Erst später durften die Eltern das Paar und ihre Enkelin Patricia besuchen – zunächst getrennt, ab 1990 dann regelmäßig. „Die Wende“, sagen beide Krauses, „war für uns ein großes Glück.“
Beide waren inzwischen Rentner. „Im Grunde sind wir zu der Zeit ständig gependelt – zur Wohnung unserer Tochter, wo wir uns oft nützlich gemacht haben. Nach Sardinien, wo unsere Kinder eine Ferienwohnung hatten. Und natürlich auch Thum, wo wir ja auch mal nach unserem Haus schauen mussten“, sagt Annemarie Krause.
Inzwischen ist das Leben – dem Alter geschuldet – etwas ruhiger geworden. Der Schwiegersohn ist gestorben. Die Tochter lebt gemeinsam mit der Enkelin in Berlin. Und die Enkelin liebt einen Amerikaner. „Unsere Geschichte geht weiter“, sagt Annemarie Krause und zitiert den Spruch ihrer Oma: „Ob schwarz, rot gelb oder weiß – jeder Mensch hat einen guten Kern.“ Inzwischen hat Annemarie Krause ihre Lebensgeschichte auch schon vor laufender Kamera erzählt und wird es demnächst wieder tun. Interviews wie diese gehören zum Konzept der Gedenkstätte Hoheneck. „Die Berichte von Zeitzeugen sollen die Ausstellung lebendig und authentisch machen“, sagt Projektleiter Stefan Appelius. Noch kämpft er gemeinsam mit der Stollberger Stadtspitze um Unterstützung und potenzielle Geldgeber.
Annemarie Krause findet die Idee einer Gedenkstätte gut und richtig. Sie würde ihre Lebensgeschichte auch wieder und wieder erzählen. Der Nachkommen wegen und für sich selbst. „Das Reden hilft mir, das Erlebte zu verarbeiten.“ Deshalb habe sie auch nie ein Geheimnis um ihre Zeit im Gefängnis gemacht. „Wissen Sie, wir hatten in Hoheneck einen Spruch, der für mich bis heute gilt: Das sind die Starken im Leben, die unter Tränen lachen und andere fröhlich machen.“ Diesen Geist vermisse sie heute, sagt sie zum Abschied. „Es ist keine gute Zeit. Es gibt zu viel Ich und viel zu wenig Wir. Es muss wieder mehr Frieden werden.“
Jana Klameth