Thüringen – Der Unstrut-Hainich-Kreis im nördlichen Thüringen zählt nicht gerade zu den vielbesuchten Gegenden Deutschlands. Hier liegen Dörfer wie Urleben, Kirchheilingen, Sundhausen, Tottleben, Blankenburg und Bruchstedt. Diese sechs Orte haben sich zur „Dorfregion Seltenrain“ zusammengeschlossen, einem Verbund bürgerschaftlicher Initiativen, um dem Strukturwandel zu begegnen, der das Leben im ländlichen Raum immer mehr erschwert.
Besonderes Augenmerk gilt dabei der Daseinsvorsorge. Für eine zunehmend alternde Bevölkerung bedeuten immer größere Entfernungen zu Ämtern, Ärzten und anderen Pflegedienstleistungen einen deutlichen Verlust an Lebensqualität. Der Wegzug vieler Jugendlicher lässt die ältere Generation mit dem beängstigenden Gefühl zurück, wortwörtlich allein gelassen zu werden.
Gesundheitskioske erleichtern Zugang zur medizinischen Versorgung
Laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sollen bis Ende 2023 bundesweit 1000 Gesundheitskioske entstehen. Demnach sollen Kommunen Gesundheitskioske in Stadtteilen gründen, die durch Armut geprägt sind und sie gemeinsam mit den Krankenkassen finanzieren. Die öffentliche Hand soll dabei 20 Prozent der Ausgaben tragen, während die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet werden sollen, 74,5 Prozent zu übernehmen und die privaten Krankenversicherungen 5,5 Prozent.
Was die Bundesregierung plant, dafür bemüht sich schon seit 2011 die Stiftung „Landleben“ mit dem Projekt „Landengel e.V.“ Auf rund 20 Quadratmetern Fläche der Kioske sollen nicht nur Gesundheitsdienstleistungen angeboten, sondern auch Möglichkeiten geschaffen werden, soziale Isolation zu vermeiden. „Wir möchten helfen, ein Gesundheits-, Pflege- und Versorgungsnetzwerk in der Region Seltenrain aufzubauen,“ so Christoph Kaufmann, Vorsitzender des Landengel e.V. Das Thüringer Sozialministerium unterstützt das Vorhaben mit dem Programm „Agathe“, das seit 2021 in inzwischen neun Thüringer Regionen für ältere und allein lebende Menschen eingerichtet wurde.
Ein Kiosk an der Bushaltestelle als Anlaufstelle
Der erste Gesundheitskiosk in Urleben (Mittelthüringen) wurde im November 2022 eröffnet, darauf folgte Kirchheilingen. Mitarbeiterinnen des Landratsamtes Unstrut Hainich Kreis bieten in den Gesundheitskiosken Unterstützung zur Vorsorgevollmacht, Pflege-und Wohnraumberatung oder Informationen zu Themen wie Organspende. Ebenso gibt es Videosprechstunden zur Früherkennung neurologischer Krankheitsbilder wie Demenz, Parkinson und Gangunsicherheiten in Urleben und Kirchheilingen.
Mitverantwortung für den Bau der Gesundheitskioske im vergangenen Jahr übernahm auch die Internationale Bauausstellung Thüringen (IBA), die nach einer beschränkten Ausschreibung das in Berlin ansässige Büro PASEL-K Architects mit sämtlichen Entwurfs- und Planungsleistungen für die Gebäude beauftragte. Foto: Gesundheitskiosk Kirchheilingen/Thomas Müller
Die vier von der IBA Thüringen in Auftrag gegebenen Gesundheitskioske sind in klimagerechter Holzbauweise realisiert, das hat einen Grund: „Die Gesundheitskioske sind eine innovative Organisationsform der Daseinsvorsorge, aber als besonders gestaltete Holzbauten bereichern sie die Orte und die Dorfgemeinschaft“, so Dr. Marta Doehler-Behzadi, Geschäftsführerin der IBA. IBA Projektleiterin Kerstin Faber ergänzt: „Die Gesundheitskioske sind hier als Kleinstarchitekturen mit Bushaltestelle ein räumlich sichtbares Leitsystem für eine deutschlandweit neue Infrastruktur. Sie verbinden die soziale und gesundheitliche mit der mobilen Vorsorge auf dem Land.“ Weitere Kioske sollen in Blankenburg (Mai 2023) und Bruchstedt (Juni 2023) eröffnet werden.
Gemeindeschwestern gegen Einsamkeit
Vier von der „Stiftung Landleben“ angestellte Mitarbeiterinnen des Projekts „Agathe“ bieten in den Dörfern Sprechstunden an. Bei den Agathe-Beraterinnen handelt es sich um erfahrene Krankenschwestern, an die sich die älteren Menschen zu festen Sprechstunden um Rat wenden können, nicht bloß medizinisch, sondern in allen Lebensfragen. Insgesamt sind bereits 450.000 Euro investiert worden, 300.000 Euro davon stammen aus Fördermitteln des Landes. Die Kioske sollen helfen, die älter werdende Bevölkerung ins gesellschaftliche Leben zu integrieren.
„In gewisser Weise läuft das ‚Projekt Agathe‘ auf eine Wiederkehr der Gemeindeschwestern hinaus, die es hier bis 1990 gegeben hat“, sagt Christopher Kaufmann, „ein Service, den wir im ländlichen Raum für unersetzbar halten und der sich sicher wieder durchsetzen wird. Wir haben in Thüringen einfach schon mal angefangen.“
Politik muss rechtzeitig gegen Isolation und Vereinsamung vorgehen
In Thüringen leben mehr als 2 Millionen Menschen. Fast ein Drittel davon ist in Rente. Mehr als 210.000 Menschen über 63 Jahre leben alleine. Und in den nächsten Jahren werden es noch mehr. Dafür gibt es viele verschiedene Gründe: Die Verwandten sind weggezogen. Die Kinder haben wenig Zeit, weil sie an weit entfernte Arbeitsplätze pendeln. Die Partnerin oder der Partner ist schon verstorben.
Wird ein ähnliches Konzept auch in Sachsen umgesetzt?
Auf Rückfrage von SZ Lebensbegleiter beim Sozialministerium teilt eine Sprecherin mit: „Gesundheitskioske können ein sinnvolles Angebot sein. Der konkrete Bedarf muss vor Ort – von Landkreisen und Kommunen – geprüft werden. Seitens der Pläne des Bundes für die deutschlandweite Errichtung von Gesundheitskiosken liegen uns bislang nur Eckpunkte zu den Überlegungen vor.“ Das Thema Gesundheitskiosk solle wohl seine Verankerung im Versorgungsgesetz finden. „Die Initiative zum Thüringer Pilotprojekt erfolgte unserer Kenntnis nach durch die gemeindeübergreifende Stiftung Landleben und den angeschlossene Verein Landengel e.V. ; Partner sind die angeschlossenen Gemeinden. Selbstverständlich werden wir uns in Sachsen mit Kassen und Kommunen abstimmen, sobald uns seitens des Bundes die weiteren Informationen vorliegen“, fügt die Sprecherin hinzu.
Weitere Informationen zu den im August 2022 veröffentlichten Plänen des Gesundheitsministeriums finden Sie hier. Die Arbeit der Gesundheitskioske sei jedoch noch zu „evaluieren“, geht daraus hervor.
Anette Rietz