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Lass los, du kannst gehen. Foto: 123rf/quickshooting 

Und jetzt zeigst du uns, wie Sterben geht

Bern – Wie lange hat er wohl noch? Diese Frage kam Julia Kalenberg mit als Erstes in den Kopf, als die Ärztin der Familie eröffnete, dass der Vater an Lungenkrebs erkrankt ist. 86 Jahre alt war er da Anfang 2020, ein Leben lang Nichtraucher. Dass ihnen nur eine begrenzte Zeit zusammen bleiben würde, war in dem Moment allen bewusst. Therapien, so machte es der Vater schnell deutlich, wolle er in keinem Fall mehr machen.

Julia Kalenberg entschied sich damals, diesen letzten Weg mit ihrem Vater gemeinsam zu gestalten. Geholfen hat ihr der Austausch mit anderen, die so wie sie jemanden verloren haben oder selbst todkrank waren. Aus diesen sehr persönlichen Erlebnissen sind wertvolle Gedanken und Anregungen entstanden. Julia Kalenberg hat sie für ihr Buch „Und jetzt zeigst du uns, wie Sterben geht“ zusammengetragen. „Ich wünsche mir, dass sie auch anderen helfen, Abschiede besser annehmen, verarbeiten und sogar mitgestalten zu können“, sagt die 59-Jährige im Gespräch mit der SZ-Lebensbegleiter.

Julia Kalenberg (59) bietet Coaching, Führungs- und Mentaltraining an. Sie ist Referentin an der Uni St. Gallen. Mit ihrem Mann lebt sie in Zimmerwald bei Bern. © :Julia Kalenberg

Frau Kalenberg, wie sind Sie auf den ungewöhnlichen Buchtitel gekommen?

Als mein Vater gespürt hat, dass es für ihn zu Ende geht, hat er viele Dinge strukturiert, mutig, ruhig und offen in die Hand genommen. Da dachte ich: Das ist unglaublich. Du hast uns beigebracht, wie man einen Stock schnitzt, um eine Wurst überm Feuer zu braten, du hast uns gezeigt, wie man einen Drachen bastelt, wie man Fahrrad fährt. Und jetzt zeigst du uns, wie Sterben geht. Das war dann der Titel.

Sterben heißt leben lernen – so lautet der Untertitel. Wie meinen Sie das?

Die Endlichkeit ist da, wir werden alle sterben. Wenn ich mir aber erlaube, diese Endlichkeit als Einladung zu begreifen, alles, was mir wichtig ist, im Hier und Jetzt zu leben, bringt das Leichtigkeit mit sich. Man muss nicht warten, bis man pensioniert ist, um abends einen schönen Spaziergang in der Sonne zu machen. Es gibt so viele Winzigkeiten, für die man sich täglich Zeit nehmen kann. Andererseits macht die Endlichkeit vielen Menschen Angst. Wenn sie sich trauen, hinzuschauen, verliert sie ein wenig von ihrem Schrecken. Auch das bringt Leichtigkeit.

Sie schreiben, dass es Ihnen anfangs selbst schwergefallen ist, mit Ihren Eltern über das Thema Sterben zu reden. Was hat es Ihnen einfacher gemacht?

Das waren zwei Dinge. Ich habe mit den Töchtern einer verstorbenen Freundin gesprochen und sie gefragt, was für sie während der Zeit der Sterbebegleitung hilfreich war. Sie erzählten mir, dass sie gemeinsam in der Familie das Buch „Über das Sterben“ gelesen haben. Es stammt von dem bekannten Palliativmediziner Gian Domenico Borasio. Ich fand das großartig. Ich habe das Buch gekauft, als mein Vater noch nicht krank war, und meiner Mutter gezeigt. Darüber zu reden, hat uns geholfen, uns dem Thema zu nähern.

Und die zweite Sache?

Die Klarheit meines Vaters, als er mit der Diagnose Lungenkrebs im Spital lag. Er war 86 Jahre alt und hatte für sich beschlossen, keine Therapie mehr machen zu wollen. Ich werde nie vergessen, wie er bei einem Besuch von mir gesagt hat: Weißt du, ich kann gehen. Natürlich braucht es zwei dazu. Hätte mein Vater sich versteckt und das Gefühl gehabt, er müsste sein Töchterlein schützen, dann hätte ich sicher auch nicht den Mut gehabt, zu sagen: In Ordnung, Papa, du brauchst keine Chemo mehr.

Viele scheuen sich, das Thema in der Familie anzusprechen. Dabei kann man doch dabei nichts falsch machen, oder?

Nein. Wichtig ist, bei sich selbst zu bleiben, zur eigenen Verletzlichkeit zu stehen, auch die eigene Unsicherheit einzuräumen und völlig unvoreingenommen ins Gespräch reinzugehen. Wenn man sich vorstellt, es könnte schwierig werden, dann wird es das vermutlich auch.

Wie könnte man so ein Gespräch mit den Eltern beginnen?

Mama, ich bin unsicher, darf ich es ansprechen? Mama, mich interessiert, wie es dir mit dem Thema geht? Oder: Was würdest du dir für ein Gespräch mit mir darüber wünschen? Vorsichtig vorfühlen und eigene Bereitschaft signalisieren. Andererseits muss man aber auch damit leben können, wenn die hochbetagte Mutter sagt: Willst du mich etwa schon unter der Erde haben? Im Buch sind mehr als 20 Geschichten abgebildet, wie Menschen aus meinem Umfeld über Tod und Sterben gesprochen haben, mit Familie, Freunden, Kollegen. Vielleicht findet der eine oder andere Leser hier eine Idee – ach, so könnte ich mir das auch vorstellen, oder so eben gar nicht. Jeder kann sich seinen eigenen Weg suchen.

War das Ihr Anliegen mit dem Buch?

In erster Linie möchte ich Menschen ermutigen, hinzuschauen statt wegzuschauen, wenn es denn so weit ist. Sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen, um damit Leichtigkeit ins Leben zu bringen – so paradox sich das im ersten Moment anhört. Viele Menschen glauben, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen, ist total schwer. Das ist es aber nur, weil sie es verdrängen und von sich wegschieben. Wenn man hinschaut, entdeckt man vielleicht: Ich muss das ja nicht nur alles erleiden. Wenn wir offen kommunizieren, haben wir im besten Fall auch Gestaltungsmöglichkeiten. Was brauchst du, Papa, dass du gut gehen kannst? Und was brauchen wir als Angehörige, dass wir dich dabei gut begleiten können? Das zu erkennen, war für mich einfach unglaublich befriedigend.

Wie sind Sie an diesen Punkt gekommen?

Geholfen haben mir kleine Erfahrungsmosaiksteine – aus Gesprächen mit anderen Menschen, aber auch aus dem Erleben ihrer Sterbebegleitung. Das hat mir den Mut gegeben, bei meinem Vater hinzuschauen und zu sagen: Ich möchte dich begleiten. Im Nachhinein fühlt sich das einfach stimmig an. Ich hätte ihm auch auf die Schulter klopfen können und sagen: Hey, Papa, wenn du aus dem Spital rauskommst, dann gehen wir schön essen. Das wäre aber eine verpasste Chance gewesen. Ich wollte nie später sagen müssen: Ach, hätte ich doch.

Sie berichten von einigen Menschen, die eine Bucket-List erstellt haben mit Dingen, die sie vor ihrem Tod noch tun wollen. Finden Sie die Idee gut?

Es müssen ja nicht die Kreuzfahrt oder der Luxusurlaub sein, sondern kleine Dinge, die einem wichtig sind. Das im Blick zu behalten, finde ich ganz wichtig. Es ermöglicht einem, auf dem Sterbebett zu sagen: Ich habe all die Dinge getan, die mir wichtig sind. Es gibt ein Buch einer australischen Pflegefachkraft: „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“. Darunter waren: Ich habe mich nicht genügend um meine Freunde gekümmert, und ich habe nicht genügend Beziehungen gepflegt. Wissen Sie, ich habe auf meinem Schreibtisch einen Stein liegen, den ich von einer Freundin geschenkt bekommen habe, die inzwischen an Krebs gestorben ist. Darauf steht: „Im Grunde genommen sind es immer die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben. Wilhelm von Humboldt.“ Das berührt mich noch immer unglaublich.

Sie schreiben, dass sie spät erkannt haben, dass es ein Geschenk war, Ihren Vater am Lebensende zu begleiten. Wie meinen Sie das?

Schwierige Frage. Ich glaube, weil ich bewusst von ihm Abschied nehmen konnte. Und weil wir diese gemeinsame Zeit bewusst gestaltet haben. Dadurch fiel mir die Trauerarbeit leichter. Viele Menschen verlieren ihre Angehörigen bei einem plötzlichen Unfalltod, dann ist das Abschiednehmen so nicht möglich.

Als es für Ihren Vater keine Hoffnung mehr gab, haben Sie eine E-Mail an Familie und Freunde geschickt und allen die Möglichkeit gegeben, sich mit einigen Zeilen an Ihren Vater zu wenden.

Mein Vater sagte einen Satz, der mir immer in Erinnerung bleiben wird: „Mir ist es vergönnt, mich zu Lebzeiten zu verabschieden von Freunden und Familie.“ Das fand ich sehr berührend, und ich wollte ihm dabei helfen. Ich habe explizit darum gebeten, keine traurigen Inhalte zu schreiben, sondern beispielsweise von Erinnerungen an gemeinsame Zeiten. Sonst hört man bei Beerdigungen ja oft Sätze wie „Ach das war doch so ein Netter“ oder „Kannst du dich noch an dies oder jenes erinnern?“. Verdammt, warum sagen sich das die Leute nicht einfach schon zu Lebzeiten?

Wie wurde das angenommen?

Wir haben sehr schöne Zuschriften bekommen. Viele Menschen waren einfach dankbar dafür, dass sie noch etwas beitragen konnten. Und wer das nicht wollte, der hat es gelassen. Wir haben keinerlei negative Post erhalten. Die Idee mit der Mail stammt übrigens von einem befreundeten Ehepaar. Die Frau konnte das Krankenzimmer ihres Mannes mit Postkarten, Briefen und ausgedruckten E-Mails tapezieren. Das fand ich wunderschön.

Sie berichten in dem Buch auch davon, wie Sie, als Ihr Vater im Sterben lag, gemeinsam mit Ihrem Bruder und Ihrer Mutter ein Plakat mit der „Gewünschten Zukunft“ erstellt haben. Welche Idee steckt dahinter?

Das ist eine Übung aus meinem beruflichen Kontext. Sie ist ganz typisch für den lösungsfokussierten Ansatz. Ich habe wirklich lange überlegt, ob ich das meiner Mutter und meinem Bruder vorschlagen soll und wie die beiden reagieren würden. Aber die Reaktionen waren positiv. Wir saßen also alle um den Wohnzimmertisch herum, und ich leitete die Übung ein: Angenommen, es ist Ende des Jahres und Papa ist nicht mehr unter uns. Wir blicken auf die letzten Monate zurück und sind zufrieden, wie wir die Zeit gestaltet haben. Was haben wir gemacht? Was hat dazu beigetragen, dass es eine annehmbare Zeit war? Womit sind wir besonders zufrieden? Innerhalb von nur einer Stunde stand unser Plakat mit unseren Notizen und Gedanken.

Was war darauf zu lesen?

Ein Beispiel, das wirklich zentral war: „Unsere Eltern haben gelernt, externe Hilfe anzunehmen.“ Zu diesem Zeitpunkt fiel es meiner Mutter nämlich noch unglaublich schwer, Unterstützung von einem Pflegedienst für meinen Vater zu holen. Das ist das Besondere bei der „Gewünschten Zukunft“. Es werden keine Forderungen formuliert, sondern man stellt sich Dinge vor, für die man in der Rückschau dankbar ist. Wir konnten auch gut unsere eigenen Bedürfnisse benennen, später durften unsere Kinder noch etwas ergänzen. Am Ende stand ein positives Zukunftsbild, auf das wir immer mal draufgeschaut haben.

Sie lassen in Ihrem Buch Platz für Notizen und werfen auch viele Fragen auf. Warum dieses Format?

Mein größter Wunsch ist es, dass sich LeserInnen von den einzelnen Geschichten inspirieren und sie ihren ganz eigenen Weg entstehen lassen, sich aus der Vielzahl an Anregungen das herausziehen, was ihnen wichtig ist. So war es auch bei mir. Aus den vielen Mutmachgeschichten, die in dem Buch abgebildet sind, habe ich aus der einen dies, aus der anderen das für mich herausgenommen. Anfangs unbewusst. Aber auf der Abschiedsfeier für meinen Vater habe ich mich zum Beispiel getraut, nach der Rednerin noch einmal das Wort zu ergreifen. Auf die Idee wäre ich nie gekommen, hätte ich nicht ein paar Jahre zuvor eine Kollegin von mir erlebt, die am Sarg ihres Vaters eine Rede gehalten hat. Das hat mich sehr beeindruckt.

Wieso haben so viele Menschen Angst vor dem Thema Sterben?

Weil sie nicht vertraut damit sind. Wir waren vergangenen Sommer bei Freunden in einem kleinen Dorf in Rumänien. Da zog ein Trauerzug mit einem offenen Sarg durch den Ort. Das war völlig normal, die Menschen dort werden direkt mit dem Tod konfrontiert. Bei uns dagegen findet das Sterben im Verborgenen statt. Es ist nicht zu sehen, wenn der Großvater oder die hochbetagte Mutter sterben. Ich habe aber auch schon positive Beispiele erlebt. Wir waren einmal bei einem Freund eingeladen, seine kranke Frau war gestorben, sie lag noch im Bett. Wir saßen drumherum, und es gab Käse und Wein. Solche Erlebnisse können helfen, die Scheu zu überwinden. Im Übrigen würde ich Ihre Frage auch anders stellen.

Wie denn?

Was müsste passieren, dass wir in unserer Gesellschaft mehr über das Thema Sterben sprechen? Dann kommen wir nämlich zu ganz anderen Antworten, weil wir über Lösungen nachdenken und darüber, was jeder Einzelne von uns beitragen kann.


Das Gespräch führte Kornelia Noack.

SZ-Lebensbegleiter Tipp:

Julia Kalenberg: Und jetzt zeigst du uns, wie Sterben geht; Zytglogge Verlag, hat 240 Seiten, kostet 24 Euro; ISBN: 978-3-7296-5115-9 © Zytglogge Verlag

Unter der Überschrift „Bitte vergiss mich nicht!“   finden Sie Nachdenswertes zum Thema Vermächtnis.

Wie spricht man über den Tod? Ein Gespräch mit Bestatter und Trauerbegleiter David Roth finden sie hier.

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