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Autorin Nicole Lindner und ihre pflegebedürftige Mutter Ingeborg. Foto: privat

„Ich wünsche mir mehr Unterstützung!“

Regensburg – Seit sechs Jahren ist das Leben von Nicole Lindner ein anderes. Damals erlitt ihre Mutter Ingeborg bei einem Routineeingriff in der Klinik einen Schlaganfall. Ihr Körper blieb halbseitig gelähmt. Kurz darauf erneut ein Schlaganfall, wenige Wochen später wurde die 68-Jährige als Pflegefall nach Hause entlassen. „Unsere Familie entschied, Mama zu Hause zu pflegen und sie nicht in ein Heim zu geben“, sagt Nicole Lindner, die da 39 Jahre alt war und als Sozialpädagogin in unterschiedlichen Bereichen der Seniorenarbeit gearbeitet hatte.

Gemeinsam mit dem Vater und ihrem Bruder baute sie das Haus nahe Regensburg behindertengerecht um – seitdem teilen sie sich die häusliche Pflege. Ihre Erfahrungen verarbeitet Nicole Lindner in ihrem Buch „Gute Pflege braucht Kraft“. Ich möchte verhindern, dass pflegende Angehörige aus Sorge um ihre Lieben ausbrennen und sich immer mehr vergessen“, sagt sie. Die SZ hat mit ihr gesprochen.

Unser Buchtipp

Nicole Lindner: „Gute Pflege braucht Kraft und Selbsthilfe für pflegende Angehörige“,

Mabuse-verlag, 180 Seiten, 23 Euro,
ISBN: 978-3-86321-638-2

Frau Lindner, fühlen Sie den täglichen Einsatz von pflegenden Angehörigen wie Sie genug honoriert?

Nein. Wir leisten meist eine über mehrere Jahre andauernde 24-Stunden-Pflege. Dafür erhält beispielsweise eine pflegebedürftige Person mit Pflegegrad 4 pro Monat 728 Euro Pflegegeld. Die Angehörigen, die Tag und Nacht pflegen, bekommen dann diesen Betrag als monatliches „Gehalt“. Zum Vergleich: Eine Pflegekraft verdient bei einer 40-Stunden-Woche etwa 3.370 Euro im Monat. Bucht man bei einem ambulanten Pflegedienst eine Nachtpflege, zahlt man alleine für eine Nacht schon 300 Euro.

Wie könnte man das Engagement angemessen wertschätzen?

In Bayern gibt es zum Beispiel das Landespflegegeld. Pro Jahr bekommen wir 1.000 Euro zur freien Verfügung. Das finde ich toll. Man könnte es erhöhen und bundesweit ausweiten. Gut fände ich auch eine automatische Anpassung der Pflegeversicherungsleistungen an die Kostenerhöhungen. Derzeit bewegt sich das Pflegegeld je nach Pflegegrad zwischen 316 und 901 Euro. Ab Januar ist eine Erhöhung um fünf Prozent geplant, das entspricht 16 bis 45 Euro monatlich. Lächerlich im Verhältnis zu den Kostenexplosionen überall. Die letzte Erhöhung gab es übrigens im Jahre 2017!

Die Vorsitzende der Grünen hat jüngst einen Lohnersatz gefordert. Neu ist der Vorschlag nicht, umgesetzt wurde er aber noch nicht. Was halten Sie davon?

Ich finde es gut, wenn man über eine andere Finanzierung nachdenkt als nur ein zinsloses Darlehen bei längerer Pflegezeit, das es ja bereits gibt. Schweden könnte ein Vorbild sein. Hier wird die Pflege hauptsächlich über Steuergelder finanziert und nicht über die Pflegeversicherung beziehungsweise aus der eigenen Tasche. Pflegende Angehörige können dort für eine unbegrenzte Zeit durch die Kommune angestellt werden. Der Lohn ist vergleichbar mit einem Job im ambulanten Pflegedienst.

Was ist mit Entlastungsangeboten?

Die müssen unbedingt ausgebaut werden. Es gibt ja zum Beispiel ein Recht auf Nachtpflege. Das hilft aber nichts, wenn es in der Region keine Einrichtung gibt, die Nachtpflege anbietet, so wie bei uns. Mein 78-jähriger Vater leistet daher die Nachtpflege seit 2017 mit drei- bis viermal Aufstehen pro Nacht alleine. Wie fast alle Angehörigen opfert er sich regelrecht auf. Ist ständig im Einsatz, fühlt sich verpflichtet. Hinzu kommt, dass der Gesundheitszustand des Pflegebedürftigen meist nicht besser wird. Das macht ja auch was mit den Pflegenden.

Was meinen Sie damit?

Wir müssen da sein, Zuversicht ausstrahlen. Das kann einen selbst total auslaugen. Pflege ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Bei uns daheim sind es schon sechs Jahre. Wenn man so lange keinen Urlaub hatte, immer zur Verfügung steht, das eigene Leben für den anderen aufgibt, und man dabei aber nicht auf sich selbst schaut, läuft man schnell Gefahr, Depressionen zu bekommen. Daher hab ich das Buch geschrieben. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus und weil ich bei anderen Pflegenden beobachtet habe, dass sie krank geworden sind.

Wie schafft man es, dass aus dem liebevollen Kümmern kein Aufopfern wird?

Man sollte jede Hilfe annehmen. Die Pflegekassen bieten Unterstützung an, etwa Kurse, bei denen Pflegende wichtige Handgriffe lernen. Wir wollten zum Beispiel wissen, wie wir unsere Mutter richtig heben oder den Transfer vom Bett zum Rollstuhl hinbekommen. Das geht ja auch irgendwann auf den Rücken. Genauso wichtig ist die Selbstfürsorge, sich eigene Kraftquellen zu erschließen. Meinem Vater war es immer wichtig, in den Chor zu gehen. Damit er das weiterhin machen kann, haben wir eine Pflegekraft engagiert, die einen Abend pro Woche für drei Stunden vorbeikommt. Es ist ein Fehler, eigene Bekannte und Hobbys zu vernachlässigen.

Bei vielen nagt dann aber das schlechte Gewissen. Wie kann man dem begegnen?

Ja, weil sie sich verpflichtet fühlen. Aber es gibt Unterstützung, man muss sie nur annehmen. Wichtig finde ich die Verhinderungspflege. Da zahlt die Pflegekasse einen gewissen Betrag, wenn jemand anderes die Pflege vertretungsweise ein paar Stunden oder Tage übernimmt. Das sollte man nutzen und offen mit der zu pflegenden Person besprechen: Ich brauche die Zeit für mich, um noch lange für dich da zu sein. Ich kann mich nicht komplett aufgeben.

Um den Pflege-Alltag zu erleichtern, empfehlen Sie die sogenannte Biografiearbeit. Was genau bedeutet das?

Lebensgeschichtliche Arbeit. Wenn ich die Vergangenheit meiner Mutter, sprich Gewohnheiten oder Rituale, mit einbeziehe, vermittle ich ihr damit ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Früher ist sie zum Beispiel gern um neun Uhr aufgestanden, hat ihren Kaffee ohne Milch getrunken und dabei Musik gehört. Ich versuche, das genauso fortzusetzen, weil meine Mutter sich dann verstanden fühlt. Angenommen, jemand war sonntags immer zum Gottesdienst, dann sollte er sich das jetzt einfach im Fernsehen anschauen. Oder jemand hat gern gestrickt, dann kann man es noch einmal gemeinsam versuchen. Gerade bei Demenzkranken schlägt es aufs Selbstwertgefühl, wenn sie immer mehr Fähigkeiten verlieren und abhängiger werden. Das geht oft mit Aggressionen einher. Durch die Biografiearbeit kann man sie lange mit Themen fördern, die sie interessieren.

Das lässt sich natürlich zu Hause besser umsetzen als in einem Pflegeheim.

Stimmt, und das ist genau der große Vorteil der häuslichen Pflege. Die Pflegenden kennen die Lebensgeschichte des Angehörigen sehr gut. Wenn ich meiner Mutter zum Beispiel die Haare wasche, trockne ich ihr immer das Ohr aus. Weil ich genau weiß, wenn ich das nicht mache, bekommt sie eine Ohrenentzündung. Zwar werden beim Einzug in ein Heim oft biografische Dinge abgefragt, aber wer soll sich das alles merken und in der täglichen Pflege berücksichtigen? Das ist schon schwierig.

Wie können Pflegepersonen die Biografiearbeit für sich nutzen?

Das Wissen um die eigenen Grenzen und Möglichkeiten ist gerade in der Pflege sehr wichtig. Schaut man sich die eigene Vergangenheit an und reflektiert sie, lässt sich besser mit aktuellen Alltagsproblemen umgehen. In einer Krisensituation kann ich mich zum Beispiel fragen: Wie bin ich früher mit einer ähnlichen Situation umgegangen? Was hilft mir? Freunde treffen, eine Therapie? Bei welchen Hobbys kann ich mich entspannen? Im besten Falle söhnt man sich mit Dingen aus und erlangt dadurch Kraft für die anstrengende Pflege.

Das Gespräch führte Kornelia Noack.

SZ-Lebensbegleiter Tipp:

Hilfe zur Pflege

Die gesetzlichen Krankenkassen bieten verschiedene Online-Kurse, Gruppenseminare oder individuelle Schulungen in der Häuslichkeit an. Angehörige sollten sich erkundigen.

Die AOK Plus zum Beispiel unterstützt pflegende Angehörige zusätzlich mit dem Online-Selbsthilfe-Programm „Familiencoach Pflege“. Neben Hinweisen können interaktive Übungen, Videos und Audios abgerufen werden.

Die Barmer bietet Kompaktseminare an, die auch einen Austausch mit anderen Pflegenden ermöglichen.

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