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Waldbaden – was bringt das?

Erst die Ferse, dann langsam den ganzen Fuß: Die Dresdnerin Antje Jessen zeigt Redakteurin Susanne Plecher achtsames Gehen. Foto: Matthias Rietschel

Sachsen – Ist Waldbaden esoterischer Unsinn? Ich habe es in der Dresdner Heide ausprobiert.

Wald tut gut. Der Duft nach Harz, Laub, Pilzen, das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Blätter beruhigen aufgeregte Sinne und lassen Sorgen verblassen. Wer wöllte das bezweifeln? Wanderschuhe an, rein in den Wald, schon geht die Erholung los. Wozu braucht man da einen Kurs, der Geld kostet, frage ich mich. Und verabrede mich mit Antje Jessen.

Die Erziehungswissenschaftlerin aus Dresden ist professionelle Entspannungsanleiterin. Unter dem Titel „Stressbewältigung durch Achtsamkeit im Wald“ hilft sie Nervösen und Überforderten, im ausgedehnten Wald der Dresdner Heide Ruhe zu finden – und wohl auch ein Stück zu sich selbst. „Ich werde oft mit Vorurteilen konfrontiert. Viele finden das irgendwie esoterisch, andere unnötig: Das brauche ich nicht, das kann ich allein“, zitiert sie die Zweifler, als wir uns am Waldrand treffen und im Spaziertempo loslaufen. Als hätte sie meine Gedanken erraten.

Wir sind für eine Kursstunde „Shinrin Yoku“ zusammengekommen. Ein „Bad in der Atmosphäre des Waldes nehmen“, heißt das übersetzt. Wörtlich ist das nicht zu verstehen, Handtuch und Badeanzug sind dafür nicht nötig. Die japanische staatliche Waldbehörde entwickelte das Konzept Anfang der Achtzigerjahre. Sie wollte Bewohner der Millionenstädte Tokyo, Osaka und Kyoto dazu anregen, häufiger in der Natur zu sein. Einen Weg dazu weisen auch deutsche Lehrer. Beispielsweise kann man Kurse oder auch eine Ausbildung bei www.shinrin-yoku.life buchen.

„Der Weg durch den Wald führt zu einem gesünderen, glücklicheren Leben.“

Japanisches Sprichwort

Erste Forschungsergebnisse untermauerten diese Weisheit, ebenfalls ab Mitte der 1980er: Amerikanische Wissenschaftler wiesen in einer Studie nach, dass sich Patienten nach einer Gallenblasen-OP schneller und mit weniger Schmerzmitteln erholten, wenn sie vom Fenster aus ins Grüne anstatt in einen zugemauerten Innenhof schauen konnten. Andere Studien zeigten, dass der Cortisolgehalt im Blut bei Waldspaziergängern viel geringer ist als bei Laufbandjoggern. Das japanische Landwirtschaftsministerium ließ 2004 erforschen, wie sich konkret das Waldbaden auf die Gesundheit auswirkt. Der Immunologe Qing Li, Professor an der Nippon Medical School, übernahm den Job. Und wies in mehreren klinischen Studien nach, dass ein Aufenthalt oder Spaziergang im Wald Stress reduziert, Energielevel und Konzentration steigern, den Blutdruck senken, Depression und Nervosität entgegenwirken, das Immunsystem stärken und den Schlaf verbessern kann. Li gilt inzwischen als Begründer der Forest Medicine, einer interdisziplinären Wissenschaft, die erforscht, wie der Aufenthalt im Wald Gesundheit und Wohlbefinden verbessert.

Raus in die Natur – es ist in Mode gekommen

Waldbaden ist längst zum Trend geworden, mit dem sich gut verdienen lässt. Es gibt Bücher, Anleitungsvideos, Kurse. Ist der moderne Mensch von der Natur tatsächlich so entkoppelt, dass er eine Anleitung braucht, um sich im Wald entspannen zu können?

Antje Jessen bleibt abrupt stehen. „Für das Waldbaden laufen wir viel zu schnell“, sagt sie und blickt lächelnd in die Baumkronen über dem Weg. Das war mir gar nicht aufgefallen. Ich warte vergebens auf weitere Erläuterungen. Mir dämmert: Langsamkeit und Stille, also die Abwesenheit von Unterhaltung, sind Teil des Konzeptes. „Wir hetzen immer durch den Tag. Wer die Dinge langsam verrichtet, gilt als unproduktiv“, kommentiert Jessen meine unausgesprochenen Gedanken und läutet die Kursstunde mit Atemübungen aus dem Qi Gong ein. Wir stellen unsere Füße hüftbreit auf, die Beine sind leicht gebeugt, die Augen geschlossen. Die Arme öffnen sich so weit, bis der Rücken ins Hohlkreuz fällt und sich die Brustwirbelsäule aufdehnt. Beim Ausatmen lassen wir den Oberkörper fallen. „Schieben Sie die Sorgen des Tages von sich weg“, höre ich.

In das Hier und Jetzt hineinlauschen

Als ob das so einfach ginge. Der Einwand mit der Esoterik kommt mir in den Sinn. Aber mit innerer Ablehnung werde ich nicht herausfinden, ob das Bad im Wald wirkt. Also lasse ich mich darauf ein. Und schiebe. Doch bei der nächsten Aufgabe, Landart, meldet sich die innere Stimme wieder. „Kindergartengedöns“, spottet sie. Wir suchen Materialien und legen daraus gemeinsam ein Bild. Ohne zu sprechen. 20 Minuten sind dafür eingeplant. So etwas habe ich zuletzt gemacht, als meine Kinder klein waren und wir Mandalas mit Blättern und Steinchen legten. Auch diese Aufgabe verfolgt den Zweck, die Aufmerksamkeit auf den aktuellen Moment zu lenken, sich nur auf ihn zu konzentrieren. Die Geräusche, Düfte, das Klima des Waldes nimmt man dabei ganz automatisch wahr.

Plötzlich bin ich es, die in die Baumwipfel über dem Weg schaut. Sachte bewegt sich ein Ast mit reifen Vogelbeeren im Wind. Eicheln krachen auf den Boden. Am Waldrand knattert ein Moped vorbei. Ich hebe einen Zweig auf, Eicheln, altes Laub. Beim Bücken und Sammeln gelingt, was mit Qi Gong nicht funktionierte. Kurzzeitig denke ich an nichts Anderes mehr. Ich suche, schaue und sammle. Mehr nicht.

„Die Umgebung mit allen Sinnen wahrzunehmen ist eine Fähigkeit, die besonders uns Stadtmenschen verloren gegangen ist“, sagt Jessen. Also Büroarbeitern wie mir, die den ganzen Tag vor dem Rechner sitzen. „IT-ler, Medienleute, Mediziner – Leute, die viel mit dem Kopf arbeiten – buchen unsere Kurse“, sagt Jörg Meier. Er ist der Vorsitzende des Bundesverbandes Waldbaden e.V. https://www.bundesverband-waldbaden.de/, der 2019 gegründet worden ist. 140 Mitglieder vertritt er inzwischen. Waldbaden erfreut sich in Deutschland einer immer größeren Nachfrage. „Corona hat diese Tendenz verstärkt“, so Meier. Nach jedem Lockdown hätten sich die Anmeldungen in den Kursen erhöht, sei das Bedürfnis nach Natur und Entspannung deutlich gestiegen.

So funktioniert ein Kurs

Acht Wochen dauert ein Kurs bei Antje Jessen, je zwei Entspannungselemente baut sie in die Stunden ein. Das Gehen, sagt sie, sei eines ihrer Liebsten. Gehen. Im Ernst? Wir ziehen Schuhe und Strümpfe aus. Antje Jessen schreitet voran, setzt die Ferse als Erstes auf. Ich wackle hinterher. Die Balance zu finden, ist nicht leicht. Steinchen und kleine Äste piken sich in die Ferse, Kiefernnadeln und Moos fühlen sich herrlich an: weich, zart. Streichelnd. Ein Rabe krächzt. Auf dem Weg nähern sich zwei Frauen. Ich denke kurz über das seltsame Bild nach, das wir ihnen bieten, so barfuß, wie wir über den Waldboden staken. Antje Jessen lächelt. Ruht in sich. Macht ihr das nichts aus? „Am Anfang schon, aber dann habe ich gemerkt, wie ich runterkomme. Beim bewussten Gehen spüre ich die Natur und meinen Atem. Jetzt mache ich es einfach. Was andere denken könnten, ist mir gleich“, sagt sie.

Ich verstehe: Ohne diese Übungen wird der Wald zur Kulisse, die vorbeirauscht, während man redet oder sinniert. Mit den Übungen fühlen wir den Wald, zwingen die abschweifenden Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Das schafft Abstand zu aktuellen Sorgen. Der Geist kann sich entspannen. Klingt esoterisch? Ja. Fühlt sich aber gut an. „So ein Kurs ist eigentlich ein organisiertes Nichts-Tun im philosophischen Sinn, es ist ein geführter Waldspaziergang mit gesundheitsbezogenen Übungen“, erklärt Verbandschef Meier. „Eintauchen, alles loslassen. Darum geht es.“

Kassen übernehmen Kosten

Dass das effektiv ist, davon ist die Zentrale Prüfstelle Prävention überzeugt und hat das Kurskonzept zertifiziert. Damit können die Krankenkassen die Teilnahmegebühr bezuschussen. Die Barmer tut das zum Beispiel mit 75 Euro, die AOK Plus übernimmt den gesamten Betrag. Das Konzept ziele sowohl auf die „akute individuelle Stressbewältigung als auch auf die längerfristig wirksame Ressourcen- und Resilienzstärkung“, sagt Hannelore Strobel von der AOK. Teilnehmende üben mit Meditation oder Atemtechniken ihr Stressmanagement und schulen ihre Achtsamkeit. „Der Kurs geht über einen einfachen Waldspaziergang hinaus und ist ein Angebot zur Gesunderhaltung und Vorbeugung von Krankheiten“, sagt Claudia Szymula von der Barmer Sachsen.

Antje Jessen schult meine Achtsamkeit mit Brombeeren. Wir setzen uns auf eine Bank und essen. Das heißt: Wir riechen, befühlen und spüren die Früchte im Mund, bevor wie sie zerbeißen. Es sind Gekaufte aus dem Supermarkt, deren Geschmack nicht hält, was der Duft verspricht. Fad sind sie, wenig aromatisch. Wir schweigen eine Weile. „Können Sie Stille ertragen?“, frage ich. „Jetzt ja. Früher gar nicht“, antwortet Jessen. „Da musste immer etwas passieren, sonst hatte ich ein ungutes Gefühl.“ Der Stresslevel der dreifachen Mutter war enorm, als sie – frisch geschiedenen – erst vor zwei Jahren selbst zum Waldbaden fand. Dessen Effekt hat sie so überzeugt, dass sie sich beruflich neu orientierte. Ihre Kurse bietet sie nun auf Nachfrage an.

Die Natur – ein Hafen der Stille

Nur herumzusitzen, in die Umgebung zu schauen und nichts weiter zu tun – vielen fällt das schwer. „Die Leute haben so viele Sorgen, Stress, sie sind verängstigt wegen der vielen Krisen. Ohne Handy in der Hand geht fast gar nichts mehr“, sagt Jörg Meier. Im Wald aus- und einatmen hilft? Es kann dabei helfen, „unsere Konzentration und Fähigkeit zur Problemlösung zu verbessern“, schreibt Annette Lavrijen in ihrem Buch „Shinrin Yoku“. „Mitten in diesem ganzen Tumult stellt die Natur einen Hafen der Stille dar, des Freiraums und der Reflexion, wo wir vor Anker gehen, uns erden können.“

Eine Feuerwanze wühlt sich durch Hainbuchenlaub. Ein Stapel Fichtenstämme verbreitet Harzaroma. „Waldbaden ist die Kunst, sich durch all unsere Sinne mit der Natur zu verbinden“, hat Waldmediziner Qing Li gesagt. Vier Stunden pro Woche wären ideal, um richtig zur Ruhe zu kommen. Mehr als vier Kilometer sollte man in dieser Zeit nicht gehen. Mir reicht vorerst schon eine gute Stunde. Ich fühle mich erfrischt und erholt, wie immer, wenn ich aus dem Wald komme. Aber die meditativen Übungen haben mir geistigen Abstand zu meinem Terminkarussell gewährt, mich auf neue Gedanken gebracht. Einbilden solle ich mir darauf nichts, gibt mir Antje Jessen zu verstehen. „Das war nur ein Impuls. Das Wissen im Alltag anzuwenden, ist die Herausforderung“, sagt sie. Und lächelt.

Susanne Plecher

SZ-Lebensbegleiter Tipp:

Wie verbunden sind Sie mit der Natur?

Beantworten Sie den Großteil der folgenden Fragen mit „Ja“, sind Sie auf der sicheren Seite. Beantworten Sie sie mit „Nein“– gehen Sie in den Wald!

  • Ich spüre eine starke Naturverbundenheit.
  • Ich suche die Natur auf, um zur Ruhe zu kommen.
  • Ich verbringe meine Freizeit gern in der Natur.
  • Mein Wohlbefinden hängt vom Wohlbefinden der Natur ab.
  • Ich empfinde eine große Liebe zu Tieren und Pflanzen.
  • Meine Verbundenheit zu ihnen beeinflusst meinen Lebensstil.
  • Mein Verhalten beeinflusst das Wohlbefinden unseres Planeten.
  • Mensch und Natur sind Teil desselben Systems und voneinander abhängig.

Quelle: Annette Lavrijen

Literaturtipp: Annette Lavrijen: Shinrin Yoku, Waldbaden, die heilende Kraft der Natur. Lübbe, 240 Seiten, 16 Euro.

Kurse finden: Auf der Internetseite des Bundesverbandes Waldbaden finden Sie die passende Ortsgruppe zu Ihrem Wohnort. Einfach mal anrufen und nachfragen!

Lesen Sie auch unseren Beitrag „Der Natur ganz nah.

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